Ausbildung

Er wollte nur eine Busse vermeiden – und leitete schliesslich den Olympia-Final

An Olympia-Finals teilzunehmen, ist in der Weltsportart Badminton enorm schwierig. 2021 hat dies aber ein Schweizer geschafft – Schiedsrichter Ivo Kassel. Anlässlich der «Week of the Referee» werfen wir einen Blick auf seine Karriere, die eigentlich überhaupt nicht geplant war.

Nein, man kann nicht sagen, es sei Berufung gewesen. Ivo Kassel war 15 Jahre jung und jagte im BC Wil dem Shuttle nach -  er verschwendete aber keinen Gedanken daran, Schiedsrichter zu werden. Da half aber ein Passus im Reglement. Ab der 3. Liga musste jeder Club einen Schiedsrichter stellen, ansonsten wurde eine Strafzahlung fällig. «Mein einziger Beweggrund war, dass wir so eine Busse vermeiden konnten. Ansonsten wäre ich gar nicht draufgekommen», erinnert sich Kassel schmunzelnd.

Er hat den besten Platz in der Halle

Ivo Kassel wohnte damals in Bronschhofen, einer kleinen Ortschaft in der politischen Gemeinde Wil und mit dem langjährigen NLA-Spitzenclub BC Uzwil hatte er Spitzenbadminton quasi vor der Haustüre. Ivo besuchte noch die Schule, war relativ gut verfügbar und machte seine Sache sehr gut und so ging es schnell. Bald folgten – parallel zum eigenen Spiel – erste NLA-Einsätze und die Begehrlichkeiten wurden immer grösser. Ebenso wie der Stundenaufwand für sein Hobby: Er übernahm auch noch die Junioren und fungierte als Jugend-und-Sport-Ausbildner.

Es folgte die erste Elite-SM, ein internationales Turnier in Lausanne und mit allen Einsätzen auch eine Erkenntnis: «Je besser die Spieler, desto unproblematischer der Ablauf.» Und die Faszination wurde immer grösser. Heute beschreibt er es so: «Ich habe den besten Platz und sehe gute Spieler am Werk.»

Bald kamen erste internationale Reisen, zum Beispiel nach Tschechien, wo die Halle den Stereotypen entsprechend rustikalen Charme verströmte und 1999 nach Glasgow an die Junioren-EM. Auch dieser Anlass brachte viele positive Erkenntnisse: «Ich habe gesehen, dass ich von den Besten nicht so weit entfernt war und habe Blut geleckt.» 2001, im zarten Alter von 24, wurde er vom europäischen Badminton-Verband zertifiziert, der damals noch EBU hiess. Dieser Status entspricht demjenigen des UEFA-Schiedsrichters im Fussball.

«Wie in einer komplett anderen Sportart»

Rasch folgte auch die Ebene Weltverband und die letzte Prüfung sollte er ausgerechnet am Thomas & Uber Cup in Djakarta ablegen. 10000 Personen, eine proppenvolle Halle, draussen ein Public Viewing und drinnen ein Lärmpegel, dass man die eigene Stimme nicht mehr verstand. «Wenn ich die ganzen Ansagen machte, hörte mich kaum jemand und mit den Spielern musste ich mich mit Handzeichen verständigen. Das Turnier war ein absolutes Highlight und ich kam mir vor wie in einer komplett anderen Sportart.» Dass es ihm gelang, im hitzigen Ambiente kühlen Kopf zu bewahren und er die Prüfung schliesslich bravourös bestand, war alles andere als selbstverständlich.

Vier Jahre später der logische nächste Entwicklungsschritt: Die Selektion für die Olympischen Spiele in London. Ivo Kassel wollte auch da nicht einfach nur dem Coubertin’schen Motto huldigen: «Ich war  ehrgeizig und wollte eines der fünf Goldspiele leiten.» Der Traum platzte, dem Rookie lief es nicht wie gewünscht und er wurde nicht für die entscheidenden Runden nominiert. So bleiben vor allem die Erinnerungen an die Teilnahme an der Eröffnungs- und Schlussfeier als Höhepunkte haften.

Die Krönung in Tokio


Die Nicht-Selektion Rio 2016 war für ihn weniger wichtig, weil «Badminton in Brasilien keine Bedeutung hat», der Blick ging sofort vier Jahre weiter. Mit der erneuten Zielsetzung Final. Fünf Jahre wurden es schliesslich, bis die Weltelite in Tokio aufschlug und die Umstände waren coronabedingt höchst suboptimal: Restriktionen en masse, keine Zuschauer und damit fast keine Stimmung in der Halle – eine gewaltige Enttäuschung im ansonsten so badmintonverrückten Land. «Mein einziges Ziel war deshalb wirklich das Goldmedaillenspiel», sagt Kassel, der schliesslich im Damen-Doppel zum Handkuss kam. Und es wirklich genoss: «Es war wunderbar und das emotional beste Finalspiel.»



Bis 2032 könnte Ivo Kassel für die BWF theoretisch noch Spiele leiten, für Badminton Europe sogar bis 2037. Leistungsmässig stellt sich die Frage nach der Zukunft nicht, er zählt immer noch zu den besten Schiedsrichtern der Welt. Entschieden, ob er weitermacht, hat der Geschäftsleiter eines Verpackungsunternehmens, der auch noch den Badminton Verband Ostschweiz präsidiert, noch nicht, auch wenn ihn die Spiele in Paris 2024 reizen würden und er gerne einmal beim Indonesian Open arbitrieren würde: «Ich möchte erst dann entscheiden, wenn die Turniere nicht mehr unter dem Coronaregime durchgeführt werden.»

Dem Badminton wird er in jedem Fall auch längerfristig erhalten bleiben und seine Tätigkeit im Bereich Schiedsrichter-Ausbildung vom europäischen Verband auf den Weltverband ausdehnen. Als Schiedsrichter aufzuhören, wird ihm dereinst nicht einfach fallen: «Ich habe viel Zeit und Ferien investiert. Es sind aber auch viele Freundschaften entstanden und ich bin an viele Orte gekommen, die ich sonst nie gesehen hätte. Es hat sich auf alle Fälle hundertprozentig gelohnt.»

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